Maßgeschneiderte Therapien für Jedermann - Was bietet die personalisierte Medizin tatsächlich?

Wunschtraum aller Patienten, insbesondere der lebensbedrohlich erkrankten, ist eine individuelle, ganz persönliche Behandlung. Was liegt da näher, als diese Erwartung mit den zurzeit immer häufiger auftauchenden Begriffen der individualisierten oder personalisierten Medizin zu verbinden. Aber handelt es sich hier, wie es die Begriffe vermuten lassen, um ganzheitliche Behandlungsmethoden, die individuell auf den einzelnen Patienten und seine persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten sind?

Tatsächlich hat individualisierte oder personalisierte Medizin nichts mit ganzheitlicher oder individueller Behandlung zu tun. Sie ist auch nicht persönlicher. Es handelt sich vielmehr um eine Form der Medizin, die auf spezifische (individuelle) biologische Prozesse abgestellt ist. Bei der sogenannten stratifizierten Medizin werden die Patienten auf der Grundlage von Gentypisierungen des Tumors in Gruppen eingeteilt.

Dieser neue Ansatz in der Medizin basiert auf der Pharmakogenetik, also dem Zusammenspiel von Genen und Medikamenten. Bei der Entwicklung eines Medikamentes wird heute häufig auch gleichzeitig der dazu passende Gen-Test mit entwickelt. Mit diesen Tests soll sich feststellen lassen, welches Medikament bei wem gut wirkt und bei wem nicht. Der Arzt erhält damit neue Diagnose- und Therapiemöglichkeiten. Dem Patienten bleiben wirkungslose Behandlungen oder schwerwiegende Nebenwirkungen erspart. Im Gesundheitssystem können die zielgerichteten Therapien möglicherweise zu einer Kostensenkung führen, denn Über- und Fehlversorgung werden reduziert, nicht wirksame Therapien unterbleiben.

Bisher sind etwa 18 Arzneimittel im Gebiet der Krebs- und HIV-Erkrankungen mit molekularer Diagnostik zugelassen, im Bereich Brustkrebs ist es z.B. das Medikament Trastuzumab, Handelsname Herceptin. Herceptin schaltet einen Wachstumsfaktor aus, der bei etwa 25 Prozent der Brustkrebspatientinnen vorhanden ist. Voraussetzung ist, dass die betroffenen Frauen her2/neu-Rezeptoren auf der Oberfläche von Körper- oder Tumorzellen aufweisen. Für diese Patientinnen ist Herceptin in der Tat eine zielgerichtete, maßgeschneiderte Therapie, das passende Medikament, um den Tumor wirksam zu bekämpfen.

Das klingt in der Theorie zunächst einmal perfekt. Das Genom des Tumors verrät seine Schwachstellen und erlaubt den Einsatz von Wirkstoffen, die genau dort ansetzen. Doch wie sieht die Realität aus? Genom-Analysen, bekannt unter dem Begriff Gentests, tauchen vermehrt auf dem Markt auf. Dabei werden auch Tests angeboten, die den Nachweis ihrer klinischen Validität (Eignung des Messverfahrens) und des medizinischen Nutzens noch keineswegs erbracht haben. Hier bestehen erheblicher Forschungsbedarf und große Herausforderungen für die Wissenschaft. Wie steht es hier um die heute etablierten Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin?

Die medizinische Behandlung setzt das informierte Einverständnis der Patienten voraus. Dieses Einverständnis kann aber nur erfolgen, wenn die Patienten über die Auswirkungen der Behandlung wie auch der Nicht-Behandlung auf die Sterblichkeit, die Beschwerde- und Krankheitswahrscheinlichkeit sowie über die gesundheitsbezogene Lebensqualität und die Begleitumstände der Behandlung aufgeklärt werden. Für die Verfahren der individualisierten Medizin liegen derartige Informationen jedoch kaum vor.

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Behandlung gemäß medizinischer Leitlinien, einer Errungenschaft, für die die Frauenselbsthilfe nach Krebs lange gekämpft hat. Haben Behandlungsleitlinien ausgedient, sind sie das Gegenteil von personalisierter Medizin? Keineswegs, gerade Leitlinien erfordern den wissenschaftlichen Beleg, die klinische Expertise und die Patientenpräferenzen, wie sie auch die personalisierte Medizin verlangt. Leitlinien behindern die personalisierte Medizin nicht, sondern schließen sie ein.
Und dann wären da noch die Kosten: Die unter der Überschrift „Individualisierte Medizin“ verabreichten Medikamente sind extrem teuer, ihr Nutzen häufig fragwürdig. Meist geht es nur um eine Lebensverlängerung von wenigen Wochen oder Monaten. Diese werden teuer erkauft, angesichts der zum Teil schwerwiegenden Nebenwirkungen der Therapie.
Bevor die personalisierte Medizin flächendeckend zum Einsatz kommt, sollten zudem noch weitere Fragen geklärt werden: Wie sieht der Umgang mit den hochsensiblen Daten aus, die ein Gentest erbringt? Werden sie Teil der Patientenakte? Wer darf darauf zugreifen? Wie kann Missbrauch verhindert werden? Müsste der Umgang mit Genom-Daten nicht gesetzlich geregelt werden, wie es z.B. in Amerika der Fall ist?

Unser Fazit: Die moderne Medizin – heißt sie nun personalisiert, individualisiert oder stratifiziert – bietet große Chancen für die Zukunft. Sie steckt aber noch in den Kinderschuhen und einige Pharmafirmen täten gut daran, hier keine zurzeit noch unerfüllbaren Hoffnungen zu wecken. Zunächst gilt es, wirklich sichere, aussagekräftige, evidenzbasierte Gen-Tests zu entwickeln, damit die neuen Medikamente sicher und sinnvoll angewendet werden können. Noch gibt es zu viele vollmundige Versprechungen. Risiken und Gefahren der individualisierten Medizin werden nicht erwähnt, geschweige denn diskutiert. Als Krebs-Selbsthilfeorganisation werden wir das Thema weiterhin beobachten, kritisch begleiten und informieren.

Bundesvorstand der Frauenselbsthilfe nach Krebs