Krebs ist eine lebensbedrohliche Erkrankung. Sie löst bei Patienten trotz aller Fortschritte in der Medizin nach wie vor Angst und Schrecken aus. Ihr Blick auf lebensrettende Medikamente und Therapieverfahren ist von widerstreitenden Gefühlen geprägt: Zum einen erwarten Krebspatienten einen raschen Zugang zu innovativen Behandlungsverfahren, zum anderen wollen sie die Gewissheit haben, dass die Behandlung ihnen nutzt und möglichst wenige Nebenwirkungen hat. Sie wünschen sich, dass für sie alles, was möglich ist, und nur das, was nötig ist, getan wird. Wie sieht die Situation in Deutschland tatsächlich aus? Dazu einige Thesen:
1. In Deutschland wird fast jede dritte Studie zum Thema Krebs von der Pharmaindustrie in Auftrag gegeben– mit einem hohen Risiko für verzerrte Ergebnisse. Es gibt inzwischen eine Reihe von Untersuchungen, die nachweisen, dass kommerziell gesponserte Studien überproportional oft zu den gewünschten Ergebnissen kommen. Das geschieht mithilfe der Fragestellung, der Auswertung, der Bewertung von Ergebnissen oder auch dadurch, dass keine Pflicht besteht, die erzielten Resultate zu veröffentlichen.
Daher fordern wir einen höheren Anteil öffentlicher Gelder für unabhängige wissenschaftliche Studien. Außerdem müssen die Anforderungen an Studien geändert werden. Zurzeit gibt es zum Beispiel keine Offenlegungspflicht der detaillierten Studienplanung. Erbringen bestimmte Details unerwünschte Resultate, fallen sie bei der Veröffentlichung unter den Tisch.
2. Patienten wollen innovative Behandlungsverfahren, die einen Nutzen, bzw. einen verlässlichen Vorteil für sie in Bezug auf Verbesserung der Lebensqualität und Verlängerung der Lebensdauer bieten. Die Nebenwirkungen und Risiken eines Medikamentes müssen für sie einschätzbar sein. Das setzt voraus, dass entsprechende Informationen über Nutzen und Zusatznutzen eines neuen Medikamentes zur Verfügung stehen. Zum Zeitpunkt der Zulassung eines Medikamentes liegen diese Informationen jedoch nicht vor, der verlässliche Vorteil ist bis dahin nicht beurteilt und keineswegs bewiesen.
Wir schließen uns hier der Forderung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) an, die vielen längst abgeschlossenen Studien zu Krebstherapien dafür zu nutzen, den Zusammenhang zwischen angenommenem und tatsächlichem Nutzen systematisch zu untersuchen. Firmen und Wissenschaftler sollten die in ihren Schubladen liegenden Daten konsequent auswerten und die Ergebnisse veröffentlichen (Quelle: IQWiG/ PM vom 28.02.2011).
3. Patienten wollen an Therapieentscheidungen beteiligt werden. Sie wollen gemeinsam mit ihrem Arzt in Anbetracht ihrer persönlichen Lebenssituation eine sorgfältige Abwägung der Vor- und Nachteile von Behandlungsverfahren vornehmen. Die für sie relevanten Fragen können aber auch vom Arzt nicht beantwortet werden. Auch ihm liegen keine gesicherten Informationen über das Nutzen- und Schadenspotential von neuen Medikamenten und ihrer Anwendung unter Alltagsbedingungen vor. Hier ist Offenheit dem Patienten gegenüber gefragt. Der Arzt sollte ehrlich darüber aufklären, wo die Grenzen des medizinischen Wissens liegen.
4. Mit Sorge betrachten Patienten den erschreckenden Trend, dass Ärzte zunehmend mehr im Spannungsfeld zwischen medizinischen und unternehmerischen Prinzipien stehen. Die Perspektive und das Wohlergehen des Patienten werden ökonomischen Interessen systematisch untergeordnet, begünstigt durch entsprechende, ethisch nicht vertretbare Anreize im System. Die Folge ist, dass Entscheidungen von Faktoren abhängen, die letztlich mehr dem Nutzen z. B. des Unternehmens Krankenhaus dienen, als den Nutzen für den Patienten im Auge zu behalten.
5. Zu diesem Patientennutzen zählt für uns vordringlich auch die Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Diese vertrauensvolle Beratung ist durch die Technisierung in der Medizin immer mehr in den Hintergrund getreten. Hinzu kommt nun das Diktat der Zeit und der Ökonomie. Dabei ist das Gespräch ein wichtiges Instrument in den Händen des Arztes, das therapeutischen Nutzen hat. Niemand wird bestreiten, dass sich gute Arzt-Patienten-Kommunikation nachhaltig auf das Krankheitserleben und die Lebensqualität des Patienten auswirkt. In der Intensivmedizin ist z. B. bewiesen, dass die stärksten Belastungen für den Patienten nicht durch den technischen Aufwand, sondern durch Kommunikationsdefizite zustande kommen – wichtigster Grund übrigens auch für die Unzufriedenheit von Patienten mit ihren Ärzten.
Die Würdigung des Gespräches in ideeller und finanzieller Hinsicht könnte dazu beitragen, dass künftige Ärzte sich nicht als Krankheitsmanager verstehen, sondern als Arzt, Helfer und Heiler, der seine Person in den Dienst des Patienten stellt.
Der Begriff des Nutzens kann nicht ohne die Frage nach den Wertvorstellungen und Wertigkeiten in unserem Gesundheitssystem betrachtet werden. Innovative, meist hochpreisige Medikamente suggerieren Patienten häufig, sie seien – weil neu und teuer - besonders heilbringend. Wüsste mancher Patient, mit welchen Nebenwirkungen eine Therapie verbunden ist und welcher Nutzen letztlich für ihn bleibt – er würde auf die Therapie verzichten, ja keineswegs einwilligen, dass der Arzt ihn in dieser Form behandelt.
Hier schließt sich der Kreis, die offenen Fragen sind zu beantworten, entsprechende Studien sind durchzuführen, qualitätsgesicherte Informationen sind für Ärzte und Patienten zugänglich zu machen, damit Patienten ihren individuellen Weg der Krankheitsbewältigung gehen können. Sie übernehmen damit Verantwortung sowohl für ihr persönliches Schicksal als auch in unserem Gesundheitssystem und können die Solidarität unseres Gesundheitssystems ganz konkret erleben. Auf die Kosten-Nutzen-Frage werden dann andere Antworten möglich.
Bundesvorstand der Frauenselbsthilfe nach Krebs